Die Vorgeschichte zum Preis der Ambitionen.
Die Handlung spielt im Jahr 2965 des vierten Zeitalters. Da viele Figuren im Buch auf frühere Ereignisse Bezug nehmen und zahlreiche Beziehungen sich über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte entwickelt haben, gibt es eine umfangreiche Vorgeschichte. Diese ist auch im Buch selbst enthalten.
Das erste und zweite Zeitalter liegen bereits so weit zurück, dass sie im kollektiven Gedächtnis der Menschen kaum noch eine Rolle spielen. Das dritte Zeitalter hingegen ist in den Sagen und Geschichten bis heute lebendig geblieben. Die zwei bedeutendsten Ereignisse dieser Zeit sind die Ankunft der Menschen sowie die Konfrontation mit den Halbgöttern.
Mit dem Ende des dritten Zeitalters und der Geburt des ersten Laindars beginnt sich die Welt zunehmend in die Richtung zu entwickeln, wie sie im Buch dargestellt wird.
Zwei Zeiten waren gekommen und gegangen, ehe diese Geschichte ihren Anfang nahm. Nachdem die Götter, die zu dieser Zeit noch Numen genannt wurden, durch die vollständige Vernichtung der zweiten Welt den Wünschen der Feen gefolgt waren, entschlossen sie sich, dass ihre Nachkommen, welche sie mit sterblichen Geschöpfen der Erde gezeugt hatten, die Entscheidung treffen mussten, ob sie auf der Erde bleiben oder doch im Numengard leben wollten. Diese Entscheidung war hart, denn niemand konnte sie wieder zurücknehmen, nachdem er sie einmal getroffen hatte. Alle Kinder der Götter, gleichgültig, wann sie das Licht der Welt erblickt hatten, entschieden sich für den Numengard. Alle Kinder − bis auf die beiden Halbnumen Rion und Eulyale.
Rion, ein Koloss, halb Gott, halb Pferd, hatte, als die Götter sich zu diesem Schritt entschieden, schon eine Familie gegründet. Er herrschte er derweil über den gesamten Nordwald, welcher sich über abertausende Meilen Land erstreckte. Alle Geschöpfe des Waldes unterstanden seiner Herrschaft, denn seine Erhabenheit und Weisheit betörte selbst den mürrischsten Waldschrat.
Eulyale war die zweite Halbnumina, die sich für die Erde statt für den Numengard entschied. Sie war eine Halbgöttin von nympischer Statur. Ihre Schönheit war sprichwörtlich und viele Geister hatten um sie geworben. Doch sie wies sie alle zurück. Eulyale hatte in den Numengard ziehen wollen, wie all ihre Geschwister, als die Zeit der Entscheidung kam. Ihre Entscheidung stand fest, doch dann fing Rion an, sie zu umwerben. Er war seit Kurzem verwitwet und wollte die schöne Eulyale zu seiner neuen Frau machen. Eulyale, jung und naiv, verliebte sich in den Halbnumen aus dem Wald und versagte dem Leben im Numengard. Sie und Rion wurden ein Paar für fast achtzig Jahre. Seiner Sippe gefiel das nicht. Sie sahen in der nympischen Eulyale keine gute Frau an der Seite ihres Patrons. Und so zwangen sie Rion, sich schließlich zwischen Eulyale und seiner Verpflichtung als Herrscher des Waldes zu entscheiden. Rion zog schweren Herzens sein Volk seiner Frau vor.
Er trennte sich von Eulyale.
Die Halbnumina war tief erschüttert von Rions Entscheidung. Schließlich war sie nur wegen ihm auf der Erde verblieben. Unendlich verletzt und gekränkt, zog sich Eulyale tief in die Berge des Ostens, zurück, welche im vierten Zeitalter Titangebirge genannt werden würde. Hier verlor sie sich und mit ihr alles, was ihr an Schönheit und Anmut gegeben war. Fast sechshundert Jahre verbrachte Eulyale allein in den dunklen Kammern der Berge, dazu gezwungen, ein nahezu unsterbliches Leben zu führen. Viel geschah in der Zeit ihrer Abwesenheit. Die Geister der Erde breiteten sich über den ganzen Kontinent aus und gründeten große Reiche. Keines war jedoch vergleichbar mit dem des großen Nordwaldes unter der Führung Rions. Selbst die Fürsten kamen zum Herrn des Waldes und baten ihn um Rat. Mit der Zeit vergaß die Welt, dass es einmal eine andere Halbgöttin gegeben hatte. Kein Geschichtsbuch erzählte von ihr und neben der Macht von Rion gab es, in den Augen der Geister, nichts mehr, was von großer Bedeutung war.
Einschub des Übersetzers:
Zu dieser Zeit begab es sich auch, dass Rion den Stab der Flona durch eine List von Dain und seinen Brüdern, welche besser bekannt sind als die Hirsche des Hefies, erwarb. Dieses mächtige Artefakt verlieh Rion die Macht, aus leblosen Material Leben zu schaffen. Seitdem wurde er stets mit selbst erzeugten Kriegern begeleitet.
Eulyale jedoch lernte eine andere Macht kennen. Sie meditierte, einsam und verlassen in den Höhlen, bis sie anfing, die Kraft der Feen, die Magie, zu verstehen. Beinahe ein Jahrtausend verbrachte Eulyale mit dem Studium dieser Macht. Abseits der Geschehnissen des Zeitalters und unter den Augen der Feen, wurde Eulyale stetig mächtiger. Felizitas, die Oberste der Feen, hatte eine Vorliebe für die einsame Eulyale entwickelte und sich bereit erklärt, sie auszubilden. Dies tat sie, bis Eulyale, auf den Tag genau nach eintausentzweihundertundfünfzig Jahren, wieder von den Bergen hinabstieg. Nichts war mehr geblieben von der alten Eulyale. Intrigant, voller Rachsucht und Macht, begab sie sich zum östlichen Meer. Dort fühlte sie sich fürs Erste verborgen genug vor ihrem ehemaligen Geliebten.
An den Ufern des Meeres lebte Eulyale für eine Weile in einer kleinen Hütte, bis sie eines Tages etwas am Horizont ausmachte. Ein schwarzer Punkt war aufgetaucht und verdrängte den Horizont. Den ganzen Tag über beobachtete Eulyale, wie der Punkt näherkam. Sie konnte es nicht wissen, doch es war ein Boot voller Menschen. Sie hatten sich von Ganoe, Gaias Insel, aufgemacht, um den Ozean zu überqueren und neues Land zu suchen, denn die Insel wurde zu klein für die aufstrebenden Könige. Durch Zufall landeten diese Menschen an der Stelle wo Eulyale sich versteckt hatte. Keiner nahm jedoch Notiz von ihr, als sie ihr Lager aufschlugen. Eulyale beobachtete sie und stellte sich erst am nächsten Morgen den staunenden Menschen vor. Sie traf auf König Namib, der die Expedition persönlich geleitet hatte. Sie setzte ihre geschickte Zunge ein und betörte den König. Nachdem sie sich ihm körperlich hingegeben hatte, versprach sie ihm, er werde mit ihrer Hilfe nach der Besiedlung des Kontinents zum Großkönig aller Menschenstämme aufsteigen. Begeistert von der Vorstellung, folgte Namib Eulyales Rat und segelte schon am nächsten Tag mit seinen Männern zurück nach Ganoe, um die anderen Stämme zu überzeugen, ihm zu folgen. Eulyale jedoch verblieb auf dem Kontinent und wartete. Beinahe zehn Jahre wartete sie. Sie erwartete die Ankunft der Menschen. Zehn lange Jahre bangte Eulyale um ihre Möglichkeit, sich an Rion für ihre Schmach zu rächen.
Dann kam Namib zurück und mit ihm sieben Menschenstämme, welche mit der Absicht über das Meer gefahren waren, das neue Land für sich zu erobern.
Es geschah, wie Eulyale es sich erhofft hatte. Die Menschen kamen wie ein Regen über die Welt und eroberten sich überall ihren Platz. Die ehemaligen Bewohner der „neuen Welt“, von den Menschen nur Geister genannt, wurden nach und nach vertrieben oder schlossen sich ihnen an. Nur der Nordwald blieb frei von Menschen, denn Rion duldete keinen Unfrieden in seinem Reich.
Die zwei Stämme, die westlich und östlich des Waldes ihre Reiche gründeten, lernten bald, mit dem mächtigen Halbgott zu leben und ihn zu respektieren. Königin Elaine und König Letician, welche die zwei Stämme anführten, wurden Freunde von Rion und erfreuten sich an dem Schutz, den er ihnen bot, und der Weisheit, die seinen Worten und Taten entsprang. Rion, der Eulyale für tot gehalten hatte, war misstrauisch über ihr neuerliches Erscheinen. Selbst als sie sich ihm gegenüber friedlich verhielt, beobachtete er sie mit Argwohn.
Den Menschen gegenüber hegte er ein ähnliches Misstrauen. Für Rion waren sie Eulyales Geschöpfe, weshalb er zu verhindern suchte, dass sie sich zu einem gemeinsamen Reich zusammenschlossen. Er bat die Königreiche Miosheim und Leticia, dem immer größer werdenden Machtanspruch der Königslinie von Namib zu entsagten.
Für Miosheim und Leticia war es keine schwere Entscheidung. Der König des Waldes war ein alter und mächtiger Verbündeter, die anderen Menschen jedoch unstet und unzuverlässig.
Und so folgten sie dem Wunsch des Zentauren Rion und brachen ihre Lehenstreue zu den Namibiern.
Eulyale hatte gehofft, dass es dazu kommen würde, doch entgegen ihrer Wünsche führte die Auflösung der Allianz nicht sofort zu einem Krieg zwischen den Abtrünnigen und Namibiern. Alle Menschenstämme verhielten sich vorerst friedlich. Sie fürchteten den Herrn des Nordens und waren zu sehr mit der Eroberung des Landes beschäftigt. Eulyale kränkte es, dass „ihre“ Menschen nicht taten, wie ihnen geheißen, und sie ersann einen neuen Plan. Sie stiftete die anderen Könige ebenfalls zur Rebellion an. König Namib der Neunte, ein Nachkomme des legendären ersten Königs Namib, sah sich seiner Macht beraubt, und bat Eulyale um Hilfe, die Bundesgenossen wieder ins Großkönigreich zurückzuholen. Eulyale willigte ein, jedoch nur unter der Bedingung, dass der Krieg erst enden würde, wenn alle Menschenreiche wieder unter der Kontrolle der Namibier wären. König Namib war nicht dumm. Er wusste, dass dies unweigerlich Krieg mit dem König des Waldes bedeutete. Doch hatte er keine Wahl, wollte er seine Krone behalten, und so ging er den Pakt ein.
Für Eulyale war es dank ihres Wissens über die Gedankenmanipulation ein Leichtes, alle Reiche bis auf Leticia und Miosheim zurück unter die Lehensherrschaft des Großkönigs zu holen. Als nur die beiden Reiche unter des Zentauren Schutz fehlten, versuchte König Namib IX. den Krieg zu beenden, doch Eulyale erinnerte ihn an seine Vereinbarung, erst zu ruhen, wenn alle Reiche wieder vereint seien. Verängstigt von der Macht Eulyales und doch widerwillig, stimmte Namib einem Angriff auf den Norden zu, um dort seinen Anspruch auf die Krone des Großkönigs geltend zu machen. Doch der Angriff erfolgte nicht sofort, denn Eulyale wollte sich sicher sein, ihren ehemaligen Geliebten zu vernichten, und so griffen ihre Menschen zunächst die Geisterreiche an und eroberten sie eines nach dem anderen. Dank der nun treuepflichtigen Geister, stieg die Zahl ihrer Truppen immer stärker an.
Rion, der Eulyales Plan schon seit Langen durchschaut hatte, beobachtete mit Sorge, wie seine verschmähte Verlobte die Figuren in Position brachte. Und so befand er, dass es auch für ihn Zeit war, sich auf den Krieg vorzubereiten. Er versammelte alle Völker, die noch nicht von den Goronen unterworfen worden waren, unter dem Stab der Flona. Selbst die widerspenstigen Drachen folgten ihm.
Einschub des Übersetzers: Goronen nannten die Nordlinge die Diener von Eulyale kurz vor dem Krieg, es bedeutet in der alter Waldsprache schlicht „Feinde“.
Eulyale, welche sich vor Rion und seiner wachsenden Schar fürchtete, stoppte die Eroberung der Geisterreiche und befahl ihren Truppen, in den Nordwald einzufallen. Auf den Weg ließ Eulyale sie alles verwüsteten, gleichgültig, ob Tier, Haus oder Baum, denn Eulyale hasste alles, was Rion gehörte. Kurz vor dem Baum der Welt, welcher die Erde mit dem Numengard verband, stellte sich Rion mit seinen Verbündeten zur Schlacht. Es war ein blutiger Kampf Mensch gegen Mensch, Geist gegen Geist, Halbgott gegen Halbgott. Die Sonne ging viele Male über dem verwüsteten Schlachtfeld auf und unter. Die stinkenden Leichen verwesten am Boden, auf dem die Überlebenden entschieden, wer sich zu ihnen gesellen sollte. Selbst die Zwerge Dain, Dawlin, Dunar und Durator, die zuvor vom König des Waldes bestohlen worden waren, kämpften und starben an Rions Seite und mit ihnen fast alle Menschen aus Leticia und Miosheim. Am siebten Tag der Schlacht schien Rion mit Hilfe der Waldschrat Armee, die er mit seinem Stab erschaffen hatte, die Oberhand zu gewinnen, doch er hatte sich in Eulyales Stärke getäuscht. Sie griff den riesigen Zentaur an und verbrannte ihn mit ihrem beschworenen Drachenfeuer. In dem Moment, in dem Rion starb, zerfiel auch seine Armee, und die Drachen, welche bisher an Rions Seite gekämpft hatten, wechselten die Gefolgschaft. Trunken von dem nahen Sieg und der Genugtuung, Rion getötet zu haben, entfernte Eulyale sich das erste Mal von ihrer Armee. Sie schleppte Rions Leichnam vom Schlachtfeld an den Rand des verbrannten Waldes, wo sie seinen Körper enthauptete und ausweidete.
Diese Chance nutzte Elaine.
Königin Elaine die XVI. war von Rion ausgebildet worden und jung in ihr Amt gekommen. Der Halbgott hatte Gefallen an der klugen Königin gefunden und ihr einen Bogen aus einer Faser seines Stabes geschenkt.
Mit diesem Bogen schlich Elaine sich an Eulyale heran, spannte die Sehne, schoss und tötete Eulyale mit einem einzigen Stahlpfeil. Im Moment des Todes brach ein schwarzes Pferd mit Flügeln aus Eulyales Körper hervor. Chrysaor war geboren.
Die Goronen flohen, als sie sahen, was mit ihrer Hexenkönigin geschehen war. Elaine verbot den verbliebenen Truppen, den Goronen nachzusetzen, da sie wusste, dass die hohen Verluste auf ihrer Seite einen Sieg fraglich machten. Es folgte eine Zeit des Wundenleckens. Königin Elaine und die anderen Könige beendeten den Krieg, den man nun den Krieg der ewig blutenden Wunde nannte, ohne einen Sieger.
Die Schlacht am Baum der Welt war also geschlagen und Königin Elaine die neue starke Frau des Nordens. Doch niemand feierte das Ende des Krieges. Die Menschenstämme, die auf Rions Seite gestanden hatten, waren beinahe ausgelöscht. Die meisten Waldgeister wandten sich von der neuen Herrscherin ab, denn Rion, der Halbgott, war es gewesen, dem sie gefolgt waren. Auch die übrigen Zentauren wollten mit den Menschen nichts mehr zu tun haben und verbannten sie aus den Gebieten um den Nordwald. Nur zwei Jahre nach der Schlacht am Baum der Welt wurde Elaine von einem Waldschrat getötet, der ihren Bogen stahl.
Die Goronen hingegen, geeint durch die Macht Eulyales, zerstritten sich nach ihrem Ende und durch das Aussterben der Namibischen Dynastie. In Folge der Wirren des Krieges zerfiel das Großkönigreich in viele kleine Reiche. Die Geister, getötet und versklavt durch die Menschen seit Beginn der Eroberung des Kontinents, waren gebrochen und lebten zurückgezogen an unzugänglichen Orten.
Die Feen nutzten diese Zeit und bemächtigten sich der Artefakte wie dem Stab der Flona und den Stein der Weitsicht, welche sie auf ihre Heimatinsel mitnahmen. Den Bogen der Elaine konnten sie jedoch nicht finden. Er ging in den Jahren der Veränderung verloren. Und so glitt die Welt in eine dunkle Zeit nach der dritten großen Zivilisation und machte Platz für die vierte Welt.
Diese Welt sollte das Zeitalter der Laindar werden.
Der Beginn der vierten Welt wird im Allgemeinen mit der Geburt des Herrschers von Pallas, Laindar Archeos, im Jahre 5264 dritte Zeit oder 1 vierte Zeit angegeben.
Die Menschen hatten sich nach Eulyales Krieg getrennt und die alten Königreiche waren zerfallen. Wie früher schon auf Gaias Insel Ganoe, schlossen sich die Menschen deswegen zu Stämmen zusammen, die durch Verwandtschaft zusammengehalten wurden. Die Geister erholten sich langsam wieder und kamen aus ihren Festungen in den Tiefen der Wälder oder Berge hervor, um an wirtlicheren Plätzen zu siedeln. Damit alles im Gleichgewicht blieb, kümmerten sich die Feen der Felizitas um den Ausgleich zwischen den Geistern, Tieren und Stämmen. Diese Kontrolle allen Lebens war eine der vielen Lehren aus der dunklen Zeit nach der Herrschaft Rions und Eulyales. Die Götterwelt und die Erde verband, wie seit allen Zeiten schon, der Baum der Welt, welcher tief im nun viel kleineren nördlichen Wald stand. Aufgrund dieser Verbindung war es, wie von Alters her, nicht ungewöhnlich, dass die Götter und auch der Göttervater auf der Erde umhergingen, und sich mit den Geschöpfen vereinten. Nach der dritten Zeit waren die Götter jedoch übereingekommen, dass die Kinder aus den Beziehungen mit Sterblichen verpflichtend im Numengard, der Welt der Götter, leben sollten. Nun kam es, dass der Göttervater wieder einmal ein Kind zeugte, obwohl er seiner Frau geschworen hatte, ihr treu zu bleiben. Da er nicht wagte, den Jungen, der die Frucht seiner Beziehung mit einer Sterblichen war, zurück in den Numengard zu holen, beschloss der Göttervater, das Kind zu töten. Die Mutter des Kindes, Erea, liebte jedoch ihren Sohn über alles, sodass sie den Jungen vor dem Göttervater verbarg und ihm sagte, er sei einem frühen Kindstod erlegen. Der Göttervater glaubte diesen Schwindel und verließ Erea für immer. Erea erzog den Jungen, den sie Archeos nannte, wie einen Menschen. Jeder im Dorf glaubte, Archeos, der Vaterlose, sei einer von ihnen. Er wuchs heran und gelangte zu stattlicher Schönheit, die jeden Mann im Dorf erblassen und alle jungen Mädchen erröten ließ. Winter kamen und gingen und mit den Jahren fingen die Dorfbewohner an zu zweifeln, ob Archeos ein Mensch wie jeder andere war.
Er alterte nach seinem achtzehnten Lebensjahr beinahe unmerklich. Auch heilten selbst schlimmste Verletzungen schnell ab und nachdem Archeos bei einem Überfall auf sein Dorf ein Bein verloren hatte, wuchs es ihm wieder nach. Lange nachdem seine Mutter tot war und ebenso seine Freunde aus jungen Jahren, stand Archeos immer noch in der Blüte seiner Pracht und Schönheit. Selbst als die Kinder der Kinder seiner Knabenzeit zu Greisen geworden waren, konnte man an Archeos keine Zeichen des Alters sehen. Wenn er vorüberging, tuschelten die anderen Dorfbewohner: „Es muss eine Strafe der Götter sein, seine Mutter war eine Hure und er ist ein Bastard.“
Als Archeos es eines Tages nicht weiter ertrug, machte er sich auf und verließ das Dorf seiner Kindheit. Zweihundert Jahre lang wanderte er durch die Welt von Süden nach Norden, dann bis an die Gestade des östlichen Meeres und wieder zurück in den Westen. Überall, wo er hinkam, war er ein Fremder, denn selbst, wenn er einen Ort zum zweiten Mal betrat, lagen nicht selten fünfzig Jahre dazwischen, sodass die meisten, die sich an ihn hätten erinnern können, längst verstorben waren. Mit der Zeit gewöhnte Archeos sich daran, und wenn er in eine Stadt kam, ging er zum Herrscherhaus, um dem jeweiligen Fürsten seine Dienste anzubieten, denn in all den Jahren hatte er ein großes Wissen aufgebaut. Und so kam es, dass Archeos im Jahre 218 v.Z. in das Haus von Jahn Laindar Lainsohn, König der Pallaten, eintrat. Das Königreich der Pallaten war zu der Zeit nicht mehr als eine enges, lang gezogenes Tal in der Mitte der bis dahin namenlosen Halbinsel im äußersten Südwesten des Kontinents.
Anmerkung des Übersetzers: Dieses Tal wird nun Haran Tal genannt und ist eine der Provinzen des Reiches.
Der junge Herrscher Jahn war gerade volljährig geworden und seine Vormünder, die seine Herrschaft in seiner Kindheit verwaltet hatten, trachteten nach seinem Thron. Archeos erkannte schnell die Situation und spielte die Adeligen gegeneinander aus. Er bestach ein Orakel, um den Adligen zu sagen, dass Jahn das Reich zu wahrer Macht bringen werde, das Reich zerfiele, sollte er verraten werden. Aus Angst, die Privilegien ihrer Familien zu verlieren, entschlossen sich einige der Verschwörer, ihre Gefährten zu verraten und sich Jahn zu unterwerfen. König Jahn vereitelte den Staatsstreich und wies den Verrätern neue Lehen auf kargem Fels zu, da sie ihm nur geholfen hatten, um sich selbst zu schützen. Nachdem der Adel entmachtet war, wurde Jahn unangefochtener Herrscher der Pallaten und Archeos seine rechte Hand. Mit den Jahren wurde das Band zwischen Archeos und König Jahn immer fester, sodass Archeos das erste Mal seit über zwei Jahrhunderten sesshaft wurde. Sechzig Jahre blieb er an Jahns Seite, eine Zeit ,die zur goldenen Ära der Menschenherrschaft über das neugegründete Königreich Pallas zählte.
Da Haranstadt, die bisherige Hauptstadt, den Bedürfnissen einer aufstrebenden Regionalmacht nicht mehr genügte, beschlossen Jahn und Archeos im Jahre 256 v. Z., weiter im Süden an einem Flussdelta eine neue Stadt zu gründen. Der Fluss wurde von den Wassergeistern, die hier schon seit Eulyales Tagen lebten, Toront genannt, und Jahn, der um die friedliche Koexistenz zwischen Menschen und Wassergeistern bemüht war, nannte die neue Hauptstadt „Toront-orf“ (gesprochen Toron-torf). Anfangs waren es nicht mehr als ein paar strohbedeckte Häuser, die große Halle und der Hafen, doch mit dem Aufstieg der Pallaten zum vorherrschenden Volk auf der Halbinsel, die man nun nach ihnen „Pallas“ nannte, wuchs auch die Hauptstadt Torontorf.
Aber auch an Jahn ging die Zeit nicht spurlos vorbei. Als die nördliche Grenze bis zu den Noriod verschoben war und sich erste größere Städte gebildet hatten, war auch Jahn ein alter Mann geworden. Er, der kinderlos war und niemanden aus seiner Familie sein Erbe antreten lassen wollte, wusste, dass es bald Zeit wurde, die Herrschaft zu übertragen. Und so kam es, dass Archeos, der Sohn einer einfachen Bäuerin, in die Privatkammer der großen Halle von Torontorf gerufen wurde und König Jahn, der im Sterben lag, ihm den Herrschaftsring übergab.
„Wir wissen beide, dass es niemanden gibt, der das Land besser führen kann als du, mein Bruder“, waren Jahns letzte Worte.
Jahns Ehefrau, die nicht mit einem Erben gesegnet war, trat noch am Totenbett an Archeos heran, kniete nieder, küsste den Herrscherring an Archeos‘ Finger und verließ Torontorf für immer. Archeos betete die ganz Nacht an dem kälter werdenden Leichnam seines Freundes und erhob sich erst, als die Sonne über dem Meer aufging.
Am Morgen machten ihm alle Würdenträger des Reiches ihre Aufwartung und als sie damit fertig waren ihm die Treue zu schwören, schritt Archeos die Stufen zum Thron hinauf und sprach die Gründungsworte der Laindardynastie: “Hier stehe ich, Archeos, Fürst aller Pallaten, Herr von Pallas, und spreche zu euch in der Blüte unserer Zeit. Lasst uns das bewahren, was unsere Majestät König Jahn Lainsohn, mein Bruder, errichtet hat und sein Erbe pflegen, sodass reiche Ernte ins Haus steht. Mit meiner Herrschaft begründe ich eine Dynastie, die fortan ‚Laindar‘ heißen soll, zu Ehren von König Jahn Lainsohns Herrschaft!“
Anmerkung des Übersetzers: Warum Archeos nie den Königstitel angenommen hat, weiß bis heute niemand. Doch gerade durch diesen Verzicht kristallisierte sich die Einteilung in Fürsten und Könige heraus, die bis heute auf der ganzen Welt angewendet wird.
Mit seiner fünften Frau Esther zeugte Archeos endlich seinen ersten Sohn Tion, und wie zuvor einige Töchter. Auch Tion war mit der Gabe des langen Lebens gesegnet, seine Schwestern, sowie Archeos Töchter mit seinen früheren Frauen jedoch waren den Menschen viel ähnlicher, denn sie verstarben ganz genau wie sie. Fünfhundert Jahre waren Archeos und Tion zu zweit, bis Allanis und nach einer Weile Merot dazu kamen. Zweitausend Jahre nach der Gründung der Dynastie, an der Spitze der Macht der Laindar, war der männliche Stamm auf zwanzig Laindar angewachsen. Torontorf war zu dieser Zeit mit einer Million Menschen die größte Stadt der Welt. Die Schiffe, die den Hafen ansteuerten, wurden schon auf den Inseln im Delta des Toront entladen, da im Hafen häufig kein Platz für sie war. Schon von Weiten grüßten gigantische Statuen des Rion und der Elaine die Seefahrer, die Torontorf ansteuerten. Die Wassergeister waren aufgrund der vielen Menschen den Toront hinaufgezogen und hatten ein eigenständiges Reich, genannt Nawolef, rund um den Tafelberg im Herzen von Pallas gegründet. Diese Vertreibung der Wassergeister begründete den schwelenden Konflikt, der bis in die heute Zeit reicht.
Die Pracht von Pallas spiegelte sich nicht nur in Torontorf wider. Auch Städte, die früher einmal zu anderen Menschenstämmen gehörten und nun dem Reich angegliedert waren, blühten. Beste Beispiele hierfür waren Nordend, das über den zweitwichtigsten Hafen und die Verbindungen zum Lichterwald, dem Überbleibsel des früheren nördlichen Waldes, verfügte. Fjordheim, Bachelin und Naultiheim im Osten produzierten mehr Korn als ganze Länder in anderen Regionen und in Rion hatten die Bewohner die Kunst des Glasbrennens perfektioniert. Auch Haran, das alte Tal, dem die Pallaten entsprungen waren, hatte sich zu einem bevölkerungsreichen Zentrum der Kultur entwickelt. Nördlich der Noriod bildete sich ab etwa 850 v.Z. ein Schwesterkönigreich unter Pallas‘ Führung, welches sich in Anlehnung an ihren Protektor „Gallos“ nannte. Pallas‘ und Gallos‘ Glanz strahlte bis in den hintersten Teil der Welt und so kam es, dass Kräfte auf sie aufmerksam wurden, denen sie nicht auffallen durften.
Numina, die Frau des Göttervaters, welche im Jahre 2015 v.Z. der Laindar Dynastie in den Titanbergen des Nordens weilte, vernahm, es gäbe eine Herrscherdynastie, die seit sagenhaften zweitausend Jahren an der Spitze der Pallaten stand. Misstrauisch geworden, wanderte sie durch die gesamte Welt bis in den Südwesten nach Torontorf. Dort traf sie auf de, kaum älter gewordenen Archeos. Durch eine List erschlich sie sich Zugang zu einer Abendgesellschaft der Laindar und ihre Schönheit fiel Archeos sofort auf, sodass er sie mit in seine Gemächer nahm. Dort, im Angesicht dieses wahrlich göttlichen Antlitzes, vermochte er nicht zu sehen, wer sie wirklich war. So gelang es ihr, ihm das Geständnis zu entlocken, dass nicht etwa eine zweitausend Jahre alte Dynastie existierte, sondern vielmehr ein über zweitausend Jahre alter Herrscher. Da Numina nun nicht mehr zweifelte, dass es sich bei Archeos um einen Halbgott handelte, erlosch ihr Interesse an ihm und sie wandte einen Schlafzauber an, um dann den Palast zu verlassen. Als Archeos erwachte, war Numina schon viele Meilen entfernt zum Baum der Welt unterwegs, und Archeos, der sich zwar wunderte, aber sich nichts dabei dachte, beschäftigte sich wieder mit der Regierung seines Reiches. Numina jedoch erklomm den Baum der Welt und stellte ihren Mann zur Rede. Dieser gestand ihr alles, verteidigte sich jedoch damit, seine damalige Geliebte angewiesen zu haben, das Kind zu töten. Numina, rasend vor Wut, wandte sich von ihm ab und ersann einen Racheplan.
Sie erschuf Vierundzwanzig Rachegeister, für jeden Laindar einen. Diese nannte sie Ifrit und stattete sie mit der Gabe des langen Lebens, der Metamorphose und der Gabe der großen Kraft aus und schickte sie zur Erde. Um ihren Mann davon abzuhalten, jemals wieder einen Fuß auf die Welt zu setzen, steckte sie den Baum der Welt in Brand.
Sechshundertsiebzig Jahre lang befolgten die Ifrit Numinas Befehle und töteten acht der Laindar. Das wurde jedoch immer schwerer, da sich die Halbgötter, spätestens seit der Nacht der scharfen Klingen 2317 v.Z., vor allem im ihrem neu errichteten Palast aufhielten.
Anmerkung des Übersetzers: Nacht der scharfen Klingen wird der Überfall der Ifrit auf Hamad, einen Ort in Sanaa, genannt, wo sich Tallos Tionsohn und seine Söhne Egippo und Edeos aufhielten. Alle drei wurden von den Ifrit hingerichtet.
Da ihr Unterfangen schließlich hoffnungslos wurde, strichen die Ifrit rastlos weitere zweihundertziebzig Jahre durch die Lande, bis sie merkten, dass es niemanden in der Götterwelt zu stören schien, ob sie nicht ihrem Auftrag nachgingen oder nicht. So kam es, dass auch die Ifrit sich niederließen und 2520 v.Z. an der Grenze zum ewigen Eis, hoch im Norden, eine Stadt gründeten. Ihre Aufgabe missachtend, kümmerten sich die Rachegeister nun nicht mehr um die Vernichtung der Laindar, sondern um ihren eigenen Machterhalt. Pallas‘ Stern begann zu sinken, denn viele Handelspartner im Osten gaben ihr Geld für andere Dinge aus, als die Waren der Pallaten oder Galloten zu kaufen. Der wirtschaftliche Niedergang zerrüttete die Beziehung zwischen den Zwillingskönigreichen. Die mächtige pallatische Armee wurde verkleinert und hinterließ ein Machtvakuum, das Separatisten in Gallos nutzten, um das Königreich in einem Bürgerkrieg in viele kleine Reiche zu zerlegen (2587 v.Z). Ohne Gallos an seiner Seite musste sich Pallas auf seine Seemacht verlassen, doch die Armut vieler Küstenstädte zwang zahlreiche Seeleute in die Piraterie, die den Seehandel fast vollständig zum Erliegen brachten.
Und so verkam Pallas, das einstige Weltreich, zu einer hohlen Hülle. Dieses Scheinreich durchschauten auch innerhalb Pallas lange unterdrückte Volksstämme, und proklamierten 2763 v.Z. im Zentrum der Halbinsel einen eigenen Staat namens Sarael, der sich mit dem Wassergeisterreich Nawolef verbündete. Die Laindar intervenierten massiv, gaben jedoch nach aussichtslosem Kampf ihren Widerstand auf und schlossen Friedens- und Handelsverträge ab, um nicht jeden Einfluss auf die inneren Gebiete zu verlieren. Während also Gallos und Pallas zerfielen, ging ein neuer Stern am Staatenhimmel auf: Die Macht der Ifrit, einst nur als Henker für die Laindar erschaffen, wuchs und mit jedem eroberten Reich weiter.
Bis im Jahr 2951 v.Z. eine Seuche im Norden um sich griff. Eine mysteriöse Krankheit, aggressiv und tödlich, bereitete sich rasend schnell in den kalten Landen des Nordens aus. Es sei ein Fluch der Feen, so munkelte man in den Herrscherhäusern des Kontinents. Die Seuche sorgte dafür, dass es für die Ifrit nun bedeutend schwerer wurde, ihr Reich zusammenzuhalten. Nun steht es aus, was die Herren des Westens aus der gewonnenen Ruhe machen werden.
Letzter Eintrag in Mimirs Chroniken, gezeichnet der Übersetzer von Laosheim, erster Mai 2963 v.Z.
Jahrelang haben viele Personen am Preis der Ambitionen mitgearbeitet. Nur dank ihrer Hilfe hat dieses Werk überhaupt das Licht der Welt erblickt. Damit der Einsatz dieser lieben Freunde nicht unerwähnt bleibt, soll an dieser Stelle, sowie auch im späteren Buch, den Menschen gedankt werden, die in ihrer Freizeit korrigiert, gedacht und gemalt haben.
Ich danke im Speziellen:
👉 Heike, Hanna, Wiebke für die gute Ideen zur richtigen Zeit.
👉 Lukas, Tim, Julia, Deike, Amke, Florian und Aenne für die Korrektur des ersten Manuskripts.
👉 Sarah und Tanvir für ihre Grafiken.
👉 Jana für ihren Einsatz bei der Veröffentlichung.
Und nicht zuletzt meiner Lektorin Andrea für das professionelle Lektorat.
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